Nationalparkeffekt: Tiere werden vertraut


Von Prof. Dr. Hans-Heiner Bergmann


Tiere, die vertraut sind, die nicht in panischer Flucht davonjagen, wenn ein Mensch sich nähert, sondern gelassen weiter das tun, was die Natur ihnen vorschreibt: Das ist für uns Menschen ein Hauch von Paradies. Wir fühlen uns in ihrer Nähe auf besondere Weise in der Natur aufgehoben, in ihr heimisch. Weil wir in den Nationalparks bei den verschiedensten Tieren, wenn sie nicht verfolgt werden, solche Vertrautheit beobachten, spricht man hier vom Nationalparkeffekt. Die Vertrautheit wildlebender Tiere speist sich allerdings aus ganz verschiedenen Quellen.

Der Mornellregenpfeifer - vertraut in menschenferner Natur

Das schönste Beispiel hat einst Bengt Berg in seinem wunderschönen Buch »Mein Freund, der Regenpfeifer« geschildert. In den menschenfernen Weiten des lappländischen Fjälls brütet in einer einfachen Mulde am Boden der Mornellregenpfeifer. Der Vogel kennt die Menschen nicht als Feind. Mit viel Geduld und Einfühlungsvermögen brachte es Bengt Berg so weit, dass der Vogel neben ihm auf den Eiern saß und schließlich, als der Autor das Gelege in die Hand nahm, sich ruhig auf seiner Hand niederließ und weiter brütete. Doch sind keineswegs alle Vögel in der Arktis so vertraut wie der Mornellregenpfeifer. Auch wenn die Regenpfeifer bei uns während des Durchzugs auftauchen, halten sie größere Fluchtdistanzen ein.
Berühmt sind auch die vertrauten Tiere auf den Galapagosinseln, wo es seit Jahrmillionen keine Feinde für sie gibt. Im Gegensatz dazu sind die meisten Tiere bei uns von Geburt an oder durch Lernen scheu.

Vertrautheit durch Lernen

Kehren wir zurück zum Nationalparkeffekt, wie wir ihm in unseren Küsten-Nationalparks begegnen können. Hallig Hooge, im »Nationalpark Schleswig-Holsteinisches Wattenmeer«: Hier finden sich im Mai bis zu 15.000 Ringelgänse ein, die sich auf den Heimzug in ihre arktischen Brutgebiete in Sibirien vorbereiten. Wildgänse sind an sich scheue, misstrauische, aufmerksame Tiere. Aber hier halten sie die auf den Wegen vorbeiwandernden Spaziergänger auf 20 Meter Entfernung aus - ein paradiesisches Bild. Für diese Erscheinung gelten einige wichtige Regeln: Die Menschen dürfen den Weg nicht verlassen. Die Vögel dürfen nicht bejagt werden. Die Wege müssen häufig benutzt werden. Je häufiger die Besucher auf den Wegen vorbeikommen, ohne die Vögel zu stören, desto vertrauter werden sie. Den dieser Verhaltensänderung zugrunde liegenden Lernvorgang nennen wir Gewöhnung. Diese Gewöhnung ist die Chance für die Koexistenz der Wildtiere mit uns Menschen in der vielfach genutzten Zivilisationslandschaft. Nur durch Gewöhnung sind die Tiere in der Lage, mit der Vielzahl der Erscheinungen und Objekte fertig zu werden, die ihnen hier begegnen: Flugzeuge, Traktoren, Pkws, Fahrradfahrer, Fußgänger, Zäune, Häuser, Windkraftanlagen und vieles mehr.
Wichtig ist, dass die Reize ihren vorhersehbaren Platz haben oder vorhersehbare Bewegungen vollführen. Gewöhnung wird verhindert, wenn die Reize nachteilige Auswirkungen haben. An eine Versteckhütte in der Landschaft, aus der tödliche Schüsse abgegeben werden, wird sich kein Tier gewöhnen.
Deswegen sind Gänse in Gebieten, in denen sie bejagt werden, niemals so zahm wie die Ringelgänse im Frühjahr auf Hooge. In Bulgarien, wo sie an den Schlafplätzen und auf den Feldern intensiv bejagt werden, halten Wildgänse Fluchtdistanzen von mehreren Kilometern zu Menschen ein.

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